Estonia

Der Beginn des 20. Jahrhunderts: keine...

Eero Epner

Art Collecting in Estonia

Am Beginn des letzten Jahrhunderts unterlag die estnische Kultur, die Kunst eingeschlossen, beträchtlichen Veränderungen. Professionelle estnische Künstler traten auf, unter ihnen Maler und Bildhauer (einzelne dieser Persönlichkeiten erlangten auch Erfolg im neunzehnten Jahrhundert, doch wurde dies später wesentlich umfangreicher und organisierter). Zusätzlich zum Bedarf nach ästhetischer Modernisierung war diese Generation angetrieben durch verschiedene nationalistische Ziele, da die Ansprüche nach nationaler Souveränität oft verbunden waren mit dem Bedarf, “estnische Kunst zu schaffen”. Hoch entwickelte Kunst wie jene in Europa sollte demzufolge eine der Säulen der nationalen Kulturpolitik und der estnischen Forderung nach Staatlichkeit werden. Obwohl baltendeutsche Sammlungen nichts als Gleichgültigkeit zeigten gegenüber dieser modernen Kunst (gemacht von Personen, deren soziale und ethnische Ursprünge so unterschiedlich zu den Grundbesitzern waren), erschienen trotzdem noch keine anderen Sammler. Die zwei Hauptgründe waren das Fehlen von Interesse und Geld.

Obwohl sich Wohlstand auch auf andere soziale Klassen neben der lokalen Aristokratie ausgebreitet hatte und es vermögende Kaufleute und sogar Bauern gab, die es sich leisten konnten, Kunst zu kaufen, gab es ein weit verbreitetes Fehlen von Interesse. Zum Einen hielten viele reiche Leute an ihrem akademischen Geschmack fest, der bisher als ein bestimmter ästhetischer Imperativ funktioniert hatte, sodass die neu entstehenden (wenn auch verhaltenen) modernistischen Tendenzen sie schockierten. Darüber hinaus empfand die estnische Gesellschaft im Allgemeinen die Bildenden Künste als peinlich.

Kulturforscher haben nachgewiesen, dass am Ende des neunzehnten und am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als die Esten schlussendlich mit professioneller und zeitgenössischer Musik, Literatur und sogar Theater (zusätzlich zur Volkskultur) vertraut wurden, die Bildende Kunst am Ende dieser Liste blieb.

Da Kunstausstellungen sehr selten und auf eine chaotische Weise organisiert wurden, gab es die Kunsterziehung in der normalen Bevölkerung im besten Fall nur vereinzelt. Jahrelang war es sogar üblich, Kunstausstellungen in anderen Ausstellungen zu machen. Sogar noch am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wurden beispielsweise Bilder als Teil von landwirtschaftlichen Ausstellungen gezeigt. Natürlich half das nicht, den Wert von Kunstwerken anzuerkennen, und eine allgemein akzeptierte Praxis des Kunstsammelns zu entwickeln, wie beispielsweise in Frankreich – wo bürgerliche Kunstsammler des neunzehnten Jahrhunderts die Rolle der aristokratischen Förderer übernahmen –, war ausgeschlossen.

So ist es nicht überraschend, dass ein Autor, der sich verbreitet in den Kunstzirkeln bewegte, in einem Essay (veröffentlicht 1911–1912) behauptete, dass die Grand Seigneurs fehlten, die “während dem Genuss von Kunst über das Ende unserer Sterblichkeit nachsinnen würden”, und dass, obwohl “wir reiche Bauern und Besitzer von mehreren Häusern haben, ein Künstler oft keinen Platz hat, wohin er seinen Kopf legen könnte”. Der Schreiber setzt fort: “Wir haben bereits Bürgermeister, Ingeneure, Ärzte und Advokaten, deren jährliches Einkommen mehr als 10.000 Rubel ist [umgerechnet etwa 110.000 Dollar heute – der Autor], doch unsere Künstler müssen ihre Fähigkeiten billig im nahen Ausland durch das Anfertigen von Plakaten und Postkarten verkaufen”. Andere zeitgenössische Stimmen drückten ähnliche Klagen aus und schlossen, dass, obwohl die estnische Gesellschaft eine wirtschaftliche Entwicklung erlebte und die Bevölkerung estnischen Ursprungs mehr finanzielle Mittel denn je hätte, niemand eine ästhetische oder nationale Verpflichtung fühlte, Kunst zu sammeln. Übrigens war der nationalistische Aspekt des Kunstsammelns durch das zwanzigste Jahrhundert bedeutend; es war wahrscheinlich motiviert durch die Angst, die eigene Kultur zu verlieren (häufig bei kleinen Ländern). Demnach war jeder kulturelle Vorgang, der mit der Schöpfung eines Bildes begann und mit dessen Aufbewahrung in einer Sammlung endete, auch ein nationalistischer Vorgang.

Als ein Resultat solcher Umstände lebten und arbeiteten viele estnische Künstler im Ausland (in Italien, Norwegen, Deutschland, Frankreich und anderswo) und verkauften einen beträchtlichen Anteil ihrer Werke an die dortigen Sammler. Das versetzte das estnische Kunstsammeln am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in eine seltsame Lage. Mehr und bessere Kunst wurde produzierte denn je, doch diese Kunst wurde hauptsächlich in fremden Ländern gesammelt, nicht auf bewusste und geordnete Weise, sondern eher dank zufälliger Käufe. Doch kann nicht behauptet werden, dass das Sammeln in Estland im frühen zwanzigsten Jahrhundert ganz gestockt hätte. So erwähnt der oben genannte Autor, dass “im letzten Jahr tausende Leute Kunstausstellungen besuchten” und “Bilder in mehreren Städten und Bezirken für beachtlich mehr als 1.000 Rubel verkauft wurden”. Ein Tausend Rubel in heutigen Preisen wären vergleichsweise 11.000 Dollar, eine beträchtliche Summe. Bewiesenermaßen 300–400 Rubel davon gingen an Konrad Mägi, dem bekanntesten Maler der Zeit, ein verrücktes Genie und der erste estnische Moderne; er ist immer noch der am meisten geschätzte Künstler am estnischen Markt. Der Kreis privater Sammler konnte jedenfalls das Überleben all der anderen Künstler der Zeit nicht gewährleisten. Auch wurde keine maßgebliche Anzahl von Unternehmenssammlungen damals gegründet. Sogar nationale Museen mussten erst gegründet werden.