Estonia

Unabhängiger Staat und bodenständige Kunst

Eero Epner

Art Collecting in Estonia

Auf diese Weise kann das Sammeln von Kunst im frühen zwanzigsten Jahrhundert von mehreren Winkeln betrachtet werden. Baltendeutsche Sammlungen verloren ihre Bedeutung (entsprechend ihrer Schwerpunkte in der Vergangenheit), aber das Entstehen einer nationalen Kunst und die Sehnsucht nach Staatlichkeit brachten noch keine Schicht von Kunstsammlern, die estnische Kunst zu sammeln suchten, nicht einmal aufgrund eines Gefühls der Verpflichtung. Der wichtigste Grund war vielleicht, dass trotz der sich allmählich verbessernden sozialen Hintergründe für das Verstehen von Kunst die Wahrnehmung von Kunst noch immer sehr provinziell war. Doch das Datenmaterial zur Geschichte des Kunstsammelns in Estland ist offen gesagt sehr fragmentarisch und unklar. Niemand hat sich damit eingehend beschäftigt und sehr wenige vor dem zweiten Weltkrieg entstandene Sammlungen haben bis heute überlebt (intakt oder in Teilen), was Verallgemeinerungen sehr schwer macht.

Trotzdem zeigt sich, dass das Sammeln von Kunst in den 1920ern und besonders in den 1930ern blühte, und einige der bekanntesten Sammler in dieser Periode sind mit den Namen bekannt. Ein Sammler jener Zeit erinnerte sich später: “Eine Gruppe von Leuten mit Interesse an Kunst erschien erst im letzten Jahrzehnt bevor unsere Unabhängigkeit durch Gewalt endete [vor 1940 – d.A.].” Wie auch immer, die breitere Unterstützung durch die Gesellschaft war bis dahin nicht signifikant gestiegen. “Kunstausstellungen blieben jenseits der Interessen der Bevölkerung”, schrieb eine der kulturellen Persönlichkeiten der Zeit in ihren Memoiren. Und obwohl es mehr und mehr Ausstelllungen gab und die professionelle Kunstschule Pallas gegründet wurde sowie das Nationale Kunstmuseum, das sich zum Hauptsammler für estnische Kunst entwickelte, existierte noch kein Enthusiasmus für Kunst. Bis 1916 gab es noch keine übergreifende estnische Kunstausstellung in Tallinn, Estlands Hauptstadt. Im Gegensatz dazu zog eine Ausstellung lettischer Kunst Berichten zufolge 70.000 Besucher an. Tatsächlich wurde das staatlich geführte Kunstleben in Estland mehr und besser organisiert, ein System von Stipendien wurde installiert und Künstler begannen bestimmte soziale Sicherheiten zu bekommen. Doch dies führte nicht automatisch zu einer Ausweitung des Zirkels von privaten Sammlern. Bestimmte Zeichen weisen auf wachsende Verkäufen aus Ausstellungen hin und die Memoiren eines Sammlers beschreiben eine wahrnehmbare Demokratisierung des Kreises der Kunstsammler (dieser Sammler erinnert sich, wie “Intellektuelle mittleren Einkommens, Selbständige und zweitrangige Beamte, einige einzelne Universitätsprofessoren, Ärzte und Schriftsteller” sich jetzt Großindustriellen und Bankern anschlossen), doch gab es nur wenige große sorgfältig ausgearbeitete Sammlungen, und mittlere Sammlungen waren ausgerichtet auf patriotische und realistische Kunst. “Wir haben seit langem nichts verkauft”, erzählte ein Künstler einem besuchenden Freund 1938. “Wir sollen bodenständige und positive Kunstwerke anbieten.” Natürlich kann solch ein konservativer Zug eines Kunstpublikums kann in jedem Land gefunden werden, doch in einem kleinen Land kann sich dieses Problem als lähmender erweisen als in Orten mit mehr Alternativen. Zusätzlich war das Interesse estnischer Sammler in ausländische Kunst immer eher lauwarm; stattdessen wurde nationale Kunst schnell das bevorzugte Streben der lokalen Sammler. (Genau genommen wurden 1936 in einer Ausstellung ausländische Werke hauptsächlich aus privatem Besitz estnischer Sammler angeboten. Die Liste der Künstler in der Ausstellung ist ziemlich beeindruckend und beinhaltet Rubens, Jacob Jordaens, und Anthonis van Dyck. Doch wurden die verkauften Werke meist aus Estland hinaus genommen, entweder sofort oder in folgenden Jahrzehnten. Ein Gerücht zirkulierte, dass eine Sammlung sogar ein grafisches Werk von Rembrandt enthielt.)